Ich kann, weil ich will, was ich muss. Immanuel Kant.

Stufe 3: Absichtliches Stottern

 

Ich erinnere mich nur zu gut an den Moment im letzten Semester, als wir zum ersten Mal vor der Aufgabe des Pseudostotterns in der Öffentlichkeit standen. Damals war ich (und vermutlich auch einige von euch) fest davon überzeugt,  ich würde diese Hürde niemals überwinden.

Nun, einige Monate später, stehen wir wieder vor dieser Aufgabe. Und? Hat sich etwas verändert? Lest selbst von unseren Erfahrunge auf Stufe 3, die wir diesmal alle ohne den Schutz der Gruppe wagten, um so authentisch wie möglich zu sein.

 

1. Bei einem fremden Bäcker bestellen:

Das gewünschte Brot habe ich trotzdem bekommen, nur unbequemer war’s. Da zunächst alle Bäcker leichtes Stottern entweder nicht bemerkten oder lässig übergingen, musste ich mir schon ein paar mehr Wiederholungen und Dehnungen einbauen. Sobald man stärker pseudostottert, desto mehr neigt man dazu, Begleitsymptome zu entwickeln – es fiel mir sehr schwer, Blickkontakt mit meinem Gegenüber zu halten. (AJ)

 

2. Im Supermarkt nach einem Lebensmittel fragen

Es war zwar kein Supermarkt, sondern ein Schuhgeschäft und ich habe auch nicht nach Lebensmitteln gefragt (warum auch – in einem Schuhgeschäft?) sondern ein paar Schuhe ausgetauscht, … aber die Herausforderung kann man hoffentlich miteinander vergleichen. Nach den Auffälligkeitsübungen war das Pseudostottern schon fast einfach! Aber auch nur fast: man muss sich durchaus konzentrieren, um nicht vergessen zu Stottern, es natürlich wirken zu lassen, sein Anliegen deutlich zu machen und das Gespräch in Gang zu halten, und natürlich um die Reaktionen des Gegenübers zu beobachten. Ich mimte keine zu schwer betroffene Stotternde: eine Dehnung hier, eine Lautwiederholung da… Zwei Verkäuferinnen nahmen sich meiner an und trotz eingehenden Beobachtens konnte ich kaum eine offensichtliche Reaktion bemerken….doch das ist ja auch eine Reaktion: einfach so tun als wäre nichts. Ich konnte nämlich einen kleinen Moment des Erkennens in den Augen meiner Gegenüber erhaschen – danach aber nichts mehr. Wenn ich es mir aber recht überlege, würde ich wohl ganz genauso reagieren. Alles in allem eine durchaus positive Erfahrung, da ich mich doch unwohl und etwas ausgesetzt fühlte, ich dieses Gefühl aber durch den freundlichen Umgang (vielleicht sogar etwas freundlicher als normalerweise??? ;)) schnell verlor. (LW)

 

3. An der Bushaltestelle nachfragen, welcher Bus hier abfährt

Vielleicht hatte der eine oder andere von euch in den letzten Tagen auch die nette Begegnug mit den Ersatzhaltestellen am Platz der Einheit  – und rannte wie ich in den zwei Minuten Umsteigezeit wie ein kopfloses Huhn über den Platz, um dann natürlich nur noch den Bus davonfahren zu sehen. Während ich also auf den nächsten Bus wartete, kam mir die Idee: „Das ist doch die perfekte Situation, um Pseudostottern zu üben!“. Da muss ich mich nicht mal allzu sehr verstellen, denn ich hatte ja wirklich noch keine Ahnung 😀 . Also lief ich zur eigentlichen Haltestelle zurück und knöpfte mir als erstes ein junges Pärchen vor, die ebenfalls den Plan studierten. Ich versuchte zunächst, meine Sätze mit einigen initialen Teilwortwiederholungen zu spicken, redete dabei aber so schnell, dass die beiden erstmal kein Wort verstanden. Ich versuchte es ein zweites Mal, und wurde diesmal auch verstanden. Ende der Geschichte: Außer einer netten Nachfrage, ob ich das Gesagte nochmal wiederholen könne, keine weitere Reaktion auf mein Stottern. Und die richtige Haltestelle hab ich Dank ihrer Hilfe auch noch gefunden. (SE)

 

4. Im Blumenladen fragen, welche Blumen man am besten in Balkonkästen pflanzt

Grandiose Idee – der Blumenkasten auf dem Balkon sehnt sich neben der vertrockneten Petersilie nahezu nach ein wenig Grün. Mein sorgsam im Kopf zurechtgelegter pseudogestotterter Satz kam mir auch recht leicht über die Lippen. Schwieriger wird es, bei einem häufigen Gesprächswechsel konsequent weiter zu pseudostottern. (AJ)

 

5. Telefonische Anfrage für eine Übernachtung tätigen

Einigen liegt das Telefonieren ja nicht so besonders, da man sich im Gespräch nicht mehr auf Mimik und Gestik verlassen und die Reaktion des Gegenüber schlecht einschätzen kann. Ich persönlich finde das Telefon eigentlich einen sehr angenehmen Kommunikationsweg, da mir jederzeit die Möglichkeit besteht, aufzulegen und betreffende Person (hoffentlich) nie persönlich treffen zu müssen.  Ich entschied mich also dazu, einige Hotels in Berlin anzurufen und mich stotternd nach einem freien Zimmer zu erkundigen. Was diese Aufgabe von Anfang an erschwerte, war die Tatsache, dass ich bei einigen Hotels 4x Anrufen musste, bevor jemand meinen Anruf entgegennahm. Was für ein Service 😀 Dann hatte ich aber endlich die erste Dame am Telefon. Diese reagierte leider recht ungehalten auf mein gestottertes Anliegen (in das ich vermutlich auch die ein oder andere Dehnung zu viel eingebaut hatte) und meinte zu mir: „Jetzt holen Sie aber erstmal Luft, junge Frau. Und dann sagen Sie mir mal laut und deutlich, was Sie von mir wollen. Ich hab hier nicht den ganzen Tag Zeit. “ Meine nächsten beiden Versuche liefen deutlich besser: der junge Mann von einem Hotel in Tegel bot mir sehr freundlich an, ihm mein Anliegen doch per Mail zu übermitteln (also hatte er mich auch nicht verstanden, hahaha, war aber so nett, es mir nicht direkt auf die Nase zu binden). Und die Dame im nächsten Hotel zeigte gar keine besondere Reaktion. Man könnte diese Aktion also durchaus als erfolgreich werten, es sei denn, man gerät als Stotternder an vermutlich unterbezahlte Servicekräfte. 😉 (SE)

 

Unser Fazit: Auch wir taten uns zunächst nicht leicht mit der Aufgabe des Pseudostotterns. Anfangs legten wir durchaus ein Aufschubverhalten an den Tag („Egal, pseudostotternd Brötchen bestellen kann ich auch noch morgen, ich habe jetzt Hunger und will sofort meine Brötchen!“).
Die letzten Übungen haben sich vielleicht als gute Starter erwiesen, dass uns das Pseudostottern doch recht flüssig-unflüssig über die Lippen kam – und die restliche Portion Lässigkeit, die legen wir uns dabei auch noch zu. Wir können uns nun alle vorstellen, das Pseudostottern auch mal mit einem Patienten in-vivo durchzuführen – was ja im Endeffekt das Ziel des Ganzen war.

 

Machts gut,

SE, LW & AJ

4 thoughts on “Ich kann, weil ich will, was ich muss. Immanuel Kant.”

  1. Ich fand es schön euren Beitrag zu lesen und ich habe genauso wie ihr am Anfang auch nicht geglaubt, dass ich das Pseudostottern, dann doch gar nicht so schlimm finden würde und finde auch dass uns das Projekt letztendlich doch viel gebracht hat 🙂

  2. Wunderbar, wie Sie nochmal auf die erste Aufgabe Pseudostottern in der Öffentlichkeit im letzten Jahr eingegangen sind und nun dargestellt haben, was sich verändert hat. Sie haben sich den Situtionen gestellt, überwiegend positive Reaktionen erhalten und können Sie vorstellen, diese Methode in Ihr Therapierepertoire aufzunehmen. Optimales Ergebnis!

  3. Schön zu sehen wie andere ähnliche Aufgaben umsetzen und was dabei so für Reaktionen herauskommen. Auch sehr mutig von euch sich den Aufgabe einzeln zu stellen, nicht schlecht ^^
    Der Text ist auch richtig schön geschrieben und es hat Spaß gemacht ihn zu lesen 😉

  4. Das freut mich, dass ihr überwiegend so positive Erfahrungen machen konntet – besonders interessiert mich noch, was du für Tipps zur Begrünung eures Balkonkastens erhalten hast, AJ 😉
    Das Aufschubeverhalten kommt mir im übrigen nur allzu bekannt vor. Im Unterschied zu euch habe ich jedoch unbewusst eher das gegensätzliche Verhalten der Begleitsymptomatik des Wegschauens verwendet – eine Art demonstratives In-die-Augen-Schauen à la „wehe, du sprichst mich auf mein Stottern an“….
    Schöner Beitrag, well done! 🙂

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