„Hahahahahallöchen ich hab da mal ne Ffffrage!“
So oder so ähnlich begann fast jedes Gespräch zum letzten Teil unseres Experiments.
Die Erfahrungen drifteten doch so weit auseinander wie Nord- und Südpol, arm und reich oder England und der Rest Europas aber lest es am besten selbst…
Alle: Sich zu zweit an einer Bushaltestelle stotternd unterhalten
Diese Aufgabe erwies sich als einfacher, als erwartet. Allein die Tatsache, dass man diese Aufgabe zu zweit durchführen konnte, brachte uns ein beruhigendes Gefühl. Wir stellten uns an eine normal belebte Bushaltestelle und fingen an uns zu unterhalten. In normaler Sprechlautstärke, aber so, dass uns die Passanten hören konnten. Viele schauten verstohlen zu uns herüber, einige, die nicht allein unterwegs waren, tauschten Blicke aus. Viele von ihnen jedoch, beachteten uns gar nicht. Wir erfuhren eine Mischung aus Scham, aber auch Gleichgültigkeit. Wir glauben, dass den Passanten so viele unterschiedliche und auch ungewöhnliche Dinge auf Bahnhöfen und an Bushaltestellen passiert, dass wir nur wenig dazubeitragen konnten, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Egal, ob positiv oder negativ. Diese Aufgabe konnten wir also insgesamt betrachtet, problem- und schamlos durchführen.
ALM: Einen Passanten stotternd nach dem Weg fragen
Meine Gedanken kreisten schon eine ganze Weile um die Vorbereitung meiner Aufgabe: Wie frage ich fremde Leute am besten stotternd nach dem Weg? Wen werde ich fragen? Werden mich die Leute ernst nehmen? Wird man mich seltsam finden, womöglich sogar auslachen? Werden mir die Leute mein Stottern abnehmen?
Am Wochenende machte ich mich dann ans Werk: In einem Park, ganz in der Nähe eines Sees, positionierte ich mich und wartete auf mein erstes „Opfer“. Natürlich wollte ich nicht einfach nur stotternd nach dem Weg fragen, nein, ich hatte mir fest vorgenommen, zunächst zu erklären, warum ich mich verirrt hatte.
Trotz der ausführlichen Vorbereitung meiner Mission klopfte mir mein Herz bis zum Hals, als die erste Person um die Ecke kam. Aber hey, immerhin erleichterte mir die Aufregung in dem Moment mein Stottern. Und während ich mir noch Sorgen machte, wie mein Gegenüber wohl auf mein Stottern reagieren wird, bekam ich schon eine äußerst freundliche Antwort, dass ich schon fast da sei und nur noch ein paar Mal um die Ecke laufen müsse.
Puh – was war ich erleichtert! So schlimm war das gar nicht. Ich bedankte mich und sah schon, wie sich die nächste Testperson näherte… Und so stand ich noch eine ganze Weile im Park und wurde immer besser darin, stotternd nach dem Weg zu fragen.
„Warum hast du dir eigentlich solche Sorgen gemacht?“, fragte ich mich am Ende des Tages. Ich hatte mit allem gerechnet: Beleidigungen, Leuten, die mich auslachen, dass mir keiner helfen möchte…. Stattdessen traf ich ausnahmslos auf hilfsbereite freundliche Leute. Sicherlich guckte mich der ein oder andere zunächst irritiert an und antwortete dann dennoch ganz normal.
Im Nachhinein kann ich die Gedanken und Sorgen von Stotternden gut nachvollziehen: Das Gedankenkarussell kreist unaufhörlich und malt sich die schlimmsten Szenarien aus. Noch dazu fühlt man sich selbst mehr als unwohl, wenn man teilweise sehr schräg von der Seite angeguckt wird. Ich muss zugeben: Diese Übung hat mir die Bedeutung des Pseudostotterns in der Therapie erst richtig vor Augen geführt.
LM: In ein Geschäft gehen und sich beraten lassen
Unsere bereits recht positiven Erfahrungen ließen uns den Schwierigkeitsgrad für die weiteren Aufgaben noch etwas erhöhen. So entschied ich mich für diese Aufgabe in ein Geschäft zu gehen, bei dem bekannterweise die Angestellten eher zügig unterwegs sind und eher weniger bereit für ein ausführliches Beratungsgespräch. Ich ging in einen Elektromarkt und suchte mir als Opfer den Verkäufer, der am schnellsten an mir vorbeilaufen wollte und sprach ihn an. Ich wollte mich zu einem neuen Laptop beraten lassen, ein Thema, von dem ich auch so kaum Ahnung habe. Zu Beginn war der Verkäufer schon sichtlich genervt, dass ich es überhaupt gewagt habe, ihn anzusprechen und als er dann bemerkte, dass dies tatsächlich ein längeres Beratungsgespräch werden sollte, war sein Unmut deutlich zu spüren. Er erbarmte sich jedoch und wir gingen zu den Regalen mit den Laptops. Ich wählte eine auffällig langsame Sprechgeschwindigkeit und baute initiale Wiederholungen ein. Es ist mir unheimlich schwer gefallen, dieses Muster beizubehalten, denn der Verkäufer war sichtlich überfordert damit. Er konnte das Satzende kaum abwarten und da ich bewusst nicht nur kurze, knappe Sätze formulierte, wurde seine Geduld stark auf die Probe gestellt. Zeitweise fiel er mir ins Wort und beantwortete Fragen, manchmal ließ er mich meine Bedürfnisse nicht vollständig aufführen und unterbrach mich rüde im Satz. Scheinbar hatte ich den ungeduldigsten Zuhörer im ganzen Markt erwischt. Schließlich beendete ich meine Fragestunde und als ihm klar wurde, dass ich nicht mal einen Laptop bereit war zu kaufen, zog er mit einem unfreundlichen „ciao!“ davon. Dieses Erlebnis machte mich sehr deutlich, wie unangenehm es sein kann, jemanden auf die Nerven zu fallen und es ist mir nun noch einmal mehr möglich, mich in die Lage von noch viel stärker stotternden Menschen hineinzuversetzen. Es ist sehr beschämend und dieses Schamgefühl habe ich am ganzen Körper gefühlt. Ich habe mich zurückgewiesen gefühlt und vor allem unverstanden. Ein Gefühl, welches ich so schnell nicht mehr spüren möchte.
LKS: An einer Kasse vermehrt Fragen stellen, BEDINGUNG: eine lange Schlange
Da stand ich nun vor der Aufgabe und musste erst einmal überlegen, welcher Supermarkt denn der Auserwählte sein sollte? Ich meine, es musste schon einer sein, in dem ich nicht tagtäglich einkaufen bin..man möchte ja nach dem Erfüllen der Aufgabe noch in Ruhe seine Einkaufsgänge erledigen können. Da ich nicht in Potsdam wohne, wurde dort ein Supermarkt ausgewählt. Dieser durfte aber auch nicht zu zentral liegen, falls es doch einmal vorkommen sollte, dass ich dort einkaufen gehe. So wurde es ein Supermarkt in der Lotte-Pulewka-Straße.
Der erste Schritt war somit getan.
Ich musste die Aufgabe zwar allein durchführen, aber zur seelisch und moralischen Unterstützung nahm ich mir natürlich die andern drei Mädels mit.
Mein Einkauf waren zwei Lollies, die wir für unsere SES-Therapie brauchten.
Nun war es soweit: Ich schritt zur Kasse. Bedingung war ja, dass es eine volle Kasse bzw. lange Menschenschlange sein sollte. Und zu meinem Glück stellten sich hinter mir gleich vier weitere Leute an. Ein junger Herr mit dem Biereinkauf fürs Wochenende, eine Mutter mit Kind und noch eine Frau mittleren Alters. Als der vor mir nun abkassiert war, hatte meine Stunde geschlagen. Ich stotterte ein „Hhhhhhallo“ mit einer schönen Dehnung raus. Die Blicke zogen sich sofort auf mich und die Kassiererin wunderte sich. Damit sie das ganze noch etwas besser einordnen konnte, fragte ich, ob es denn noch andere Lollis geben würde. Natürlich mit Teilwortwiederholungen und Dehnungen. Sie bejahte, wies mich aber darauf hin, dass ich doch hätte eine andere Verkäuferin VOR dem Anstellen an der Kasse hätte fragen können. Damit war sie auch schon durch mit mir…Aber in diesem Moment fiel mir noch eine letzte (wenn auch komische) rettende Frage ein: „H-h-h-haben Sie Noch so eine —–große Trage—–tasche, die sssssso verstärkt ist? Die sind immer —–ganz prak—-tisch.“ Sie verwies non-verbal und auch etwas genervt mit dem Finger auf die unter der Kasse liegenden Tragetaschen.
„Ach nnnnnnee, das sind —-doch nicht die Richtigen.“ Noch während ich meinen Satz sprach, fragte die Kassiererin „Alles dann?“. Ich bejahte. Die Lollis waren abkassiert, mein Puls gestiegen, aber gleichzeitig war ich so erleichtert, dass ich diese Aufgabe hinter mich gebracht hatte.
Sofort kamen die Mädels zu mir gestürmt und berichteten, dass die Blicke der Leute hinter mir immer genervter wurde (besonders bei diesen Fragen).
Der junge Mann hinter mir sagte sogar leise vor sich hin, ob ich nicht mal endlich aus dem Tee kommen könnte. Er dachte bestimmt, ich höre es nicht, aber dem war leider nicht so.
AZ: Ein Telefonat mit einer unbekannten Person führen
Puh… und nun In-vivo Stottern! Eine Fähigkeit die ich im letzten Semester ,trotz Übungen, nur sehr spärlich erworben hatte. Ich fragte mich ob ich das überhaupt glaubhaft rüberbringen kann oder ob man mich direkt ertappen würde! Aber wir heißt es so schön: „Übung macht den Meister!“ oder Neudeutsch: „Challenge accepted!“
Also entschloss ich mich der Aufgabe, ein Telefonat mit einer fremden Person zu führen, anzunehmen. Ich wälzte vor meinem ersten Anruf noch einmal die Aufzeichnungen zu allem was wir im letzten Semester gelernt hatten, man will ja schließlich alles richtig machen.
Im Anschluss überlegte ich mir sorgfältig wen ich am besten anrufen könnte um doch irgendwie anonym zu bleiben. Das Mittel der Wahl war zu allererst (wie könnte es auch anders sein) eine Auskunft. Da mir die Bahn als freundlicher Dienstleister in den letzten Jahren so sehr ans Herz gewachsen war, entschied ich mich deren Mitarbeiter auf eine Geduldsprobe zu stellen (Schließlich müssen wir die ja auch oft genug unter Beweis stellen:D).
Nach kurzer Warteschleife begrüßte mich, der Stimme nach zu urteilen, eine junge Frau. Ich erklärte ihr mein Anliegen unterstützt von Blocks und Teilwortwiederholungen. Sie wartete geduldig, bis ich das sagen konnte was ich wollte. Sehr freundlich und zuvorkommend beantwortete sie meine Frage und auf meine mehrmals wiederholte Entschuldigung, dass ich sehr aufgeregt bin und sie sicher aufhalte antwortete sie nur ganz trocken: „Ach was, das macht doch nichts. Ich habe alle Zeit der Welt für Sie, ist ja schließlich mein Job Ihnen zu helfen!“ Ich war doch überrascht über solch eine Reaktion und freute mich so sehr darüber, dass ich beim Antworten fast wieder vergessen hatte weiter in meiner Rolle zu bleiben.
Tja solche freundlichen Erfahrungen wurden mir nicht immer zuteil. Ich war so angefixt von der Freundlichkeit der jungen Frau, dass ich das Experiment am nächsten Tag noch einmal startete und mich entschied in einem Restaurant einen Tisch zu bestellen und noch ein paar Fragen zu den Gerichten zu stellen. Also Dr. Suchmaschine gefragt und direkt das erstbeste am Alex in Berlin zu meinem Favoriten erklärt. Dieses Mal meldete sich ein Mann, soweit ich das mit dem Krach im Hintergrund beurteilen konnte. Auch ihm erklärte ich mein Vorhaben und stellte eins zwei Fragen zu den Möglichkeiten auch meine veganen Freunde zufrieden zu stellen. Zu Beginn war er noch sehr freundlich doch im Laufe des Gesprächs wurde seine Wortvielfalt eher eintönig und genervt. Das ganze gipfelte dann darin, dass eine plötzlich schlechter werdende Verbindung (die war die ganze Zeit hervorragend!!!) vorgeschoben wurde und er einfach auflegte. Ich war doch irgendwie schockiert und perplex :O
Unser Fazit:
Einmal selbst zu erleben welchen Situationen sich ein Stotternder Tag für Tag aussetzen muss, ist doch irgendwie eine Erfahrung wert. Klar sind wir alle angehende Sprachtherapeutinnen, für die Unverständnis ein Fremdwort sein sollte und doch kann man sich nach Ende unserer „Challenge“ noch einmal viel besser in die Gefühlslage solcher Menschen hinein versetzen. Und trotzdem wir alle Unterschiedliches erlebt haben, die Erfahrung war es wert!
ALM, LM, LKS, AZ
Irgendwie spiegeln die Reaktionen der meisten eurer Gesprächspartner doch leider den Zeit- und Leistungsdruck, unter dem jeder immer und überall steht, wieder.
Da ist ein auch noch so nett aussehendes Mädchen eben ein riesengroßes Hindernis, wenn sie nicht die gewohnte Sprechgeschwindigkeit zeigt und sich dann auch noch erdreistet, so zu sprechen, dass man ein wenig mehr Konzentration aufwenden muss. (Große Ausnahme bilden da die Leute, die gerade entspannt dem Nichtstun im Park nachgehen und die Bahn – aber dass die Herrschaften dort sich häufig etwas mehr Zeit lassen, ist inzwischen allgemein bekannt 😉 )
Hut ab also, dass ihr die teils doch sehr unglücklichen Erlebnisse so tapfer durchgestanden habt und trotzdem ein so positives Fazit für euch ziehen konntet!
Danke für diesen sehr eindrucksvollen Beitrag. Sie haben sich einigen Situationen gestellt, in denen es nicht immer einfach war, Ihre Aufgabe durchzuführen. Respekt, dass Sie es trotzdem getan haben. Ihr Fazit finde ich auch sehr schön und denke, dass Ihre teils unschönen Erfahrungen für Sie sehr wertvoll waren und Sie sich nun noch viel besser vorstellen kann, was Reaktionen von außen mit einem machen können – erst recht, wenn noch eine Stottersymptomatik vorliegt.
Sehr schönes Fazit! Ich finde die Reaktion vom Typen aus dem Restaurant einfach nur respektlos und hoffe, dass Stotterer nicht oft in solch eine Lage kommen.