„Ein weiterer Schritt ist getan auf dem langen Weg zur Menschwerdung.“

Diesen Satz sagte mein (SKs) Klassenlehrer früher immer, wenn wir es wieder bis zur Zeugnisausgabe geschafft hatten. Oder bei Geburtstagen, Jugendweihen und einem weiteren furchtbar schlecht bestrittenen Sportfest (meine Klasse war immer die unsportlichste – auch eine Leistung).

Ich jedenfalls finde, dass der Abschluss des dritten und finalen Aufgabenblocks zur In-Vivo-Arbeit genau diesen legendären Satz eigentlich auch verdient hat. Aber seht selbst:

Miteinander in der Öffentlichkeit stottern

Easypeasy, nach einer kurzen Aufwärmphase legten wir erst etwas verhalten, aber dann immer selbstsicherer los, uns gegenseitig (natürlich im angemessenen Maße) mit Dehnungen, Blocks und Wiederholungen zu duellieren. Es war ein harter Kampf, als dessen Sieger wohl unsere späteren Patienten hervorgehen. Hat hier jemand von gestotterten Gesprächen geredet? Wir sind die Richtigen für den Job!

Jemanden im Park Sanssouci nach dem Weg zu einem der Prunkgebäude fragen

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Sicher, dass ich hier lang muss, um die leckerste Pizza zu bekommen?

SK: Wie ihr vielleicht mitbekommen habt, war ein Hälfte unseres dynamischen Duos (a.k.a. ich) während dieser dritten Phase für ein paar Tage in das durchschnittlich schöne Scheeßel gereist, um zu einem Festival zu gehen. Wie ihr vielleicht außerdem mitbekommen habt, war es dieses Jahr wettertechnisch eine große Herausforderung – aber mutige In-Vivo-Stotterer wie uns hält das doch nicht von ihrer Mission ab! Der Zeltplatz war riesig und auch das eigentliche Gelände anders aufgebaut als gewohnt, wodurch es sich sehr gut anbot, angetüdelte Besucher und zunächst grimmig guckende Securities nach dem trockensten Weg zur Blue Stage, einem bestimmten Stand oder eben dem eigenen Zeltplatz zu fragen. Auf mich allein gestellt war die Aufgabe nun schon ein wenig schwieriger und mein Selbstbewusstsein sackte zunächst ein ganzes Stück ab, doch ausnahmslos jeder hörte mir (insofern seine Verfassung es zuließ) geduldig zu und versuchte bestmögliche Auskunft zu geben.

Ähnliches wiederholte sich auch in Potsdam, als ich mir zwar nicht den Weg zum Neuen Palais (aufgrund fortgeschrittener Uhrzeit und Lauffaulheit) aber doch immerhin zur Nikolaikirche und, dort einmal angekommen, zum Nikolaisaal erklären ließ. Auch hier waren alle wieder sehr freundlich (Was keine Selbstverständlichkeit in Potsdam ist!) und fragten bei Ratlosigkeit aufopferungsvoll Bekannte oder sogar fremde Passanten. Ein Berliner Ehepaar, was mir leider nicht weiterhelfen konnte, ertappte ich dabei, wie sie mir aus einiger Entfernung nochmals hinterhersahen. Wirkte ich so ratlos oder nicht überzeugend genug als Stotterer? Ich werde es nie erfahren.

Zu Beginn dieser Übung gab ich mich mit einem kurzen „da lang“ zufrieden, steigerte dies dann aber immer mehr mit zusätzlichen Fragen zur Entfernung und Tipps, was ich alternativ besuchen könnte.

RH: Diese Aufgabe hat sich bei mir etwas verlagert, hin zu „jemanden in Golm nach dem Weg zum nächsten See fragen“. Zwar ist dieser mir eigentlich besten bekannt, dennoch bot sich das bei dem Wetter der letzten Wochen einfach an. Die Schwierigkeit für mich lag hierbei in der Aufgabe, überhaupt jemanden anzutreffen, den man um Rat fragen könnte: Außerhalb der Uni ist Golm nämlich toter als tot. Vor der Kirche in Alt-Golm hatte ich jedoch Glück und traf auf eine rüstige alte Dame, die mir, absolut nicht irritiert von meiner ungewöhnlichen Sprechweise, fachkundig den Weg zum großen Zernsee wies. Meine Erfahrung aus dieser Aufgabe: Pseudostottern muss gar nicht unangenehm sein, wenn man den richtigen Gesprächspartner hat! Allerdings könnte das auch daran liegen, dass ich mich in der Situation noch etwas unsicher fühlte und die Stotterereignisse daher wohl im Rückblick gar nicht so häufig und auffällig waren.

Im Souvenirladen nach Postkartenberatung fragen

SK: Auch diese Aufgabe wurde wieder in mehreren Settings durchgeführt (Festival, Brandenburger Straße) und drehte sich eher um Kuchen, Pizza, ein gutes Buch oder auch die Wahl des perfekten Smoothies. Besonders das Beratungsgespräch zum Kuchen blieb mir im Kopf, da die Verkäuferin sich viel Zeit für mich nahm und versuchte, die ganze Situation irgendwie etwas entspannter zu gestalten. Ich ohnehin schon verunsicherter Pseudostotterer kramte nämlich nervös in meinem Geldbeutel herum und hatte erhebliche Schwierigkeiten, die bereits gesichteten Münzen auch herauszufischen. Dies alles steigerte mich noch mehr in typische Begleitsymptomen wie Vermeidung des Blickkontakts, Sprechangst und sichtbare Schamgefühle hinein, die sie allerdings durch ihre freundliche Art ein wenig auflockern konnte, sodass wir uns doch noch mit einem Lächeln und Blickkontakt verabschieden konnten.

RH: Auch ich habe nach Beratung gefragt – allerdings nicht im Souvenirladen, sondern beim Bauern mit Hofverkauf (dieser Titel ist sehr großzügig, da es sich eigentlich eher um eine Scheune mitsamt Hühnerkäfig und Gemüsebeet handelt – aber alles bio!). Dort ließ ich mir erzählen, welches Gemüse und Obst gerade besonders gut sei, und quatschte mit dem Bauern über die Gegend, wobei er mir erzählte, dass er mittlerweile fast nur noch in seinem kleinen Gärtchen ist und gar nicht mehr dort weg will 🙂 Auch wenn er mich nicht auf das Stottern ansprach, schien er mir das nicht ganz abzukaufen, evtl., da ich nicht das erste mal Kundin bei ihm war. Dennoch erlebte ich keine unangenehme Überraschung.

Eine Umfrage im Theater durchführen

SK: Diese Aufgabe hatte ich schon relativ früh in Angriff genommen, da die TheaterScouts (Das sind richtig coole Kids, kann ich nur empfehlen!) praktischerweise vor kurzer Zeit tatsächlich eine kurze Umfrage unter theaterbegeisterten Studenten durchgeführt haben, für die ich mich als Befragende natürlich mit dieser Aufgabe im Hinterkopf sofort anbot. Das größte Problem bestand darin, dass viele der Befragten mir tatsächlich bereits bekannt waren, wodurch sich eine möglichst realistische Stottersituation einfach nicht ergab. Bei Einigen klappte es dann aber tatsächlich doch noch und ich konnte mein Anliegen halbwegs souverän vortragen. Ich bin sehr dankbar, dass sich in dieser Gruppe so viele offenherzige Menschen befinden, welche kein Problem damit hatten, dass ich hier meinen kleinen Selbstversuch durchführte.

Telefonische Auskunft bei einer politischen Partei unseres Unvertrauens

RH: Bereits im Vorfeld war mein Bauchgefühl nicht so angetan von dieser Aufgabe und mein innerer Schweinehund sorgte dafür, dass ich die Aufgabe bis zum letzten Tag aufschob. Dann musste ich mir eingestehen, dass nun der letztmögliche Zeitpunkt gekommen war – ich bereitete mir ein paar Fragen vor, redete mir selbst gut zu, und da ich mir nicht eingestehen wollte, ein Feigling zu sein, wagte ich mich an den Anruf: Nummer eintippen, Wahltaste drücken, nervös auf- und abschreitend aufs Abnehmen warten und – nichts. Der Pressesprecher der Alternative für Deutschland hatte sich offensichtlich selbst eine Alternative zum Telefondienst gesucht. Schade, aber irgendwie auch eine Erleichterung.

Liebste Grüße, RH  und SK!

4 thoughts on “„Ein weiterer Schritt ist getan auf dem langen Weg zur Menschwerdung.“”

  1. Toller Blogeintrag! Ich kann LA nur dahingehend zustimmen, dass er sich echt toll und flüssig liest 🙂
    Respekt an Dich SK, dass du dich auch in solchen besonderen Festivalumständen getraut hast, Fremde (vor allem ALLEIN) anzusprechen 😀
    Tolle, lesenswerte Erfahrungen!:)

  2. Ein wunderbarer Beitrag, der ein wenig traurig macht, da er doch irgendwann zu Ende ist. Super, dass auch Sie sich mehrmals den Situationen gestellt haben. Am besten finde ich das Wortspiel, die Wahltaste zu drücken und dann bei der AfD rauszukommen 🙂 War das gewollt? Herrlich.
    Kompliment auch an die tollen Kommentare. Machen auch immer Spaß zu lesen!

  3. Wieder ein sehr gelungener Eintrag! Liest sich wie der Reisebericht eines Lifestylebloggers über ein exotisches Land, sehr anschaulich und detailliert. Ich spürte Regen in den Gummistiefeln und schmeckte Dosenbier. Die Beschreibung der ausgestorbenen Hitze Golms (inklusive Strohballen) sorgte für Western-Assoziationen.
    Hut ab dafür, dass ihr probiert habt zu telefonieren. Bei der AFD anrufen wäre auch schon ohne Stottern eine Herausforderung und somit eine potentielle Aufgabe für den Mutproben-Bereich gewesen.
    Schönschön!

  4. Ich frage mich gerade, was Potsdamer mittlerweile für eine verzerrte Sicht auf die Prävalenz von Stotternden in der Umgebung haben 🙂 Ha! Ein Begriff, der in der Klausur Verwendung findet. Ja, genau! Ich wollte prahlen und dabei auch noch bissi schlau daherkommen. „Niveau sieht nur von unten wie Arroganz aus.“ Wusste auch schon der mittlerweile nicht mehr zitierwürdige Herr Kinski oder war es wer anders. Nun ja. Fein gemacht. Und jetzt, husch, ins Bett.

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