Wenn die Pflicht ruft, gibt es viele Schwerhörige.

Wenn die Pflicht ruft, gibt es viele Schwerhörige.

Jaja wenn die Pflicht ruft, sind wir bereit, ne? Das denkt man zumindest, jedoch war es diesmal doch schwerer als erwartet einen Termin zum bevorstehenden Stotterereignis des Jahres zu finden. Als ob es etwas Wichtigeres gäbe, als die eigenen Stotterkünste auszuprobieren? Eigentlich nicht. Uneigentlich: Falldarstellungen!

So mussten wir diese Aufgaben letztlich getrennt durchführen.

Daher wird sich jede kurz zu einer der Aufgaben äußern und schildern welche Schwierigkeiten ihr eventuell begegneten.

An einem belebten Ort pseudostotternd ein Gespräch miteinander führen.

Für diese Aufgabe bin ich mit einer Freundin zum Hermannplatz gefahren. Als Thema haben wir uns die EM ausgewählt und v.a. über das bevorstehende Horrorspiel Deutschland gegen Italien gestottert. „Gggglllaubst du, dass Ita-ta-ta-ta-ta-lien verliert?“ Fragte ich sie. „Jaja. Sch..sch..schland gew-gew-gewinnt.“ Erwidert sie. Wenn das nicht überzeugend ist, dann weiß ich auch nicht. Dazu muss ich jedoch bemerken, dass wir das erst nach dem gefühlt tausendsten Mal wirklich authentisch gestottert haben, also mit dem passenden Pokerface.

Vorher war das mehr ein rumalbern unsererseits. Das war wohl auch das positive an der Aufgabe, da man keine fremden Menschen direkt angestottert hat und man unter sich ausgelassen und entspannt stottern konnte. Bei der Aufgabe zeigte sich auch, dass man schnell in ein bestimmtes Muster verfällt, so haben wir vor allem Teilwortwiederholung geübt. Die anderen Symptome wurden nur bewusst beübt. [IN]

Unbekannte pseudostotternd nach der Uhrzeit fragen.

Erst bei dieser Aufgabe begann es, dass ich mich unwohl fühlte und in meiner Aufregung habe ich mein Stottern nicht sehr variiert – ich zeigte vorrangig Blockaden – das deckte sich wahrscheinlich am besten, mit der gefühlten Hilflosigkeit und dem Ausgeliefertsein – bis auf zwei Personen, konnte man mir aber sogar helfen – und einmal wurde ich irritiert auf eine große Bahnhofsuhr hingewiesen. [AH]

In einem Laden eine(n) VerkäuferIn ansprechen und erzählen, dass Freund / Mutter bald Geburtstag hat und darum bitten, bei der Geschenkauswahl zu helfen.

Ich habe es einmal probiert und bin am Ende nicht mehr aus der Situation rausgekommen – ich war so von der Aufgabe und meiner Rolle okkupiert, dass ich es nicht schaffte, den Blumentopf, den man mir anpries „Dit blüht imma wieda. Musste fachjerecht vorm erstn Frost in Gartn packn.“ Abzuwiegeln – ich besitze nun ein lila Gloxinie – sie ist wirklich sehr schön

Eine beliebige Firma anrufen und sich nach Leistungen / Preisen erkundigen.

Vor ca. drei Wochen habe ich im Internet ein Fotoalbum bestellt, das immer noch nicht da war. Ich wollte nun diese Firma anrufen und stotternd nach meiner Bestellung fragen. Geantwortet hat mir ein Mann, der selbst fast kein Deutsch sprach und fragte mich gleich, ob ich lieber Englisch sprechen könnte. Ich war kurz irritiert und versuchte mit einem Block „no“ zu antworten. Das klang eher nach einer schlechten Verbindung als nach einem guten Stottern. Der Mann am anderen Ende blieb cool und sagte einfach, ich solle eine andere Nummer versuchen und diktierte mir sie auch gleich. Na gut. Beim zweiten Versuch hat eine Frau geantwortet, die dann schon ganz gut Deutsch sprach. Nach dem sie gefragt hat, was sie für mich tun könnte, habe ich angefangen zu erzählen und dabei habe ich vergessen zu stottern. Erst beim zweiten Satz oder so hatte ich das doch wieder vor und habe angefangen bei jedem Anfangskonsonanten zu stoppen. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass ich am häufigsten Lautwiederholungen machte. Die Frau sagte dann ungefähr nach einer Minute (ich war eigentlich noch nicht fertig mit dem Erzählen) „Bleiben Sie ganz ruhig, junge Dame, ich hab Sie verstanden, geben Sie mir einfach Ihre Bestellungsnummer“. Ich war schon ganz tief in meiner stotternden Rolle, so dass ich ganz fleißig auch die Nummer gestottert habe. Das hat dann auch sehr viel Spaß gemacht. Die Frau war weiterhin sehr geduldig und sagte nichts dazwischen. Allerdings als sie mir dann berichtete, warum ich immer noch kein Album zu Hause habe, hat sie das extrem deutlich und langsam gemacht, als ob ich alles nur schwer verstehen kann.

Im Nachhinein ist mir klar, dass es deutlich einfacher ist, am Telefon zu stottern, als wenn der Ansprechpartner direkt vor dir steht und dich sieht. [AS]

Am Ticketautomat Reisende stotternd um Hilfe beim Kauf eines Tickets bitten.

Zweimal wurde ich „aus Zeitgründen“ abgewiesen – die wussten schon, da ist was faul und beim dritten Versuch musste ich es ertragen, dass ich ja gar kein Geld bei mir hatte und das Geld für mein Ticket der Wahl nicht aufbringen konnte – als mein Gegenüber Anstalten machte, mir einen Euro zu schenken, löste ich das Ganze auf – in ihren Augen sah ich jegliches Vertrauen in die Menschheit schwinden und ich konnte es einfach nicht verantworten, dass sie das als den einzigen bisher noch unbekannten Scam betrachtete, ihr doch noch Geld aus der Tasche zu ziehen – sie bestätigte mir noch, sehr „authentisch“ rübergekommen zu sein“ [AH]

 

Fazit:

Wie in den Aufgaben zuvor reagierten die Menschen nicht mit Entsetzen sondern eher mit Gleichgültigkeit. Auch hier wurde bewusst Blickkontakt vermieden, aber die Meisten waren hilfsbereit und geduldig. Obwohl man an einigen Stellen stirnrunzelnden Menschen gegenüber stand, die sich nur „Komm endlich zum Punkt“ dachten, wenn diese jedoch den Anschein hatten, dass dieser Punkt nie kommen wird, wiesen sie uns eiskalt ab, sie hätten es eilig. Aah,wann wird diese Eile der Menschen nur vorübergehen?

Damit schließen wir die Aufgabe mit einem Zitat fürs Leben „Zeit gewinnt nur der, der sich Zeit lässt.“ (Benedikt Reetz)

 

 

2 thoughts on “Wenn die Pflicht ruft, gibt es viele Schwerhörige.”

  1. Mein Lieblingspart ist der mit der lila Gloxinie. Ist doch schön, wenn bei einer „leidigen“ Aufgabe noch etwas schönes herauskommt, das „imma wieda“ blüht. 😀
    Auch sonst finde ich den Post sehr interessant und die Schlüsse, die ihr daraus gezogen habt. Ich fand auch, dass es besonders schwer war dem Anderen im Stottern in die Augen zu sehen – sowohl für mich als auch für ihn.
    Und denkt dran, die Pflanze fachjerecht vorm ersten Frost in Jarten zu packn!

  2. Ich kann erkennen, dass Sie ein paar interessante Erfahrungen gemacht haben. Sie haben es Ihren Zuhörern jedoch ziemlich schwer gemacht, da Sie laut Ihrem Bericht fast bei jedem Wort gestottert haben. Das müssen Sie gar nicht so oft tun. Viele Stotternde haben eine Stotterrate von 10-20% – bei Ihnen waren es ja fast 50% 😉

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